Die Gemeinderatsfraktion LINKE Kirchheim lud am Freitag, 7.2.2020 zu einer höchst interessanten Informationsveranstaltung zum Thema „Bürgerbeteiligung“ ein. Einer der fünf Vorsitzenden von „Mehr Demokratie e.V. Baden-Württemberg„, Dr. Edgar Wunder, referierte sehr kenntnisreich und spannend zum Thema „Bürgerbeteiligung – Bürgerbegehren und Bürgerentscheid“.
An den Anfang seiner Ausführung stellte er Definitionsbemühungen und eine Begriffsgeschichte des sehr vielseitigen Begriffs „Bürgerbeteiligung“. Wunder machte klar: Beteiligung in Form von bloßen Anhörungen sind kein Spezifikum demokratischer Staatsformen. Es gab es sie in Form von „Audienzen“ schon im Mittelalter, in autokratischen Systemen und es gibt sie auch in nicht-demokratisch strukturierten Institutionen, z.B. im Papsttum.
Die vom derzeitigen Ministerpräsidenten Kretschmann propagagierte „Politik des Gehört-Werdens“ bedeute – so Wunder – noch nicht, dass dem „Gehört-Werden ein Erhört-Werden“ folge. Im Kontinuum zwischen der Ausübung des Wahlrechts, der bloßen Information, Anhörung und der Eröffnung von unterschiedlich weit gehenden Mit-Entscheidungsmöglichkeiten bei einzelnen Sachfragen (Volksbegehren; Volksentscheid; Bürgerbegehren, Bürgerentscheid etc.) setzt sich der Verein „Mehr Demokratie e.V.“ mit etwa 10.000 Mitgliedern bundesweit für die Ausweitung und Stärkung der unterschiedlichen Formen von direkter Demokratie ein.
Neben den unterschiedlichen Ausprägungen repräsentativer Formen der Demokratie seien die direkten Formen im Grundgesetz ebenso prominent verankert. Im Artikel 20 (Staatsstrukturprinzipien; Widerstandsrecht) heiße es in Abs. 2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen …ausgeübt.“
Auch die Formen der direkten Demokratie haben sich im Lauf ihrer Entstehungs- und Realisierungsgeschichte in den einzelnen demokratisch strukturierten Staaten verändert. Auf den unterschiedlichen politischen Ebenen – Bundesstaat, Ländern, Kommunen – gäbe es spezifische Ausprägungen.
Unterscheiden müsse man, von welcher politischen Ebene aus eine Volksabstimmung eingeleitet werde. Dies könne von „oben“ – von einer Regierung aus – oder von „unten“ von einer Gruppe von Bürger/innen aus geschehen.
Differenzieren müsse man bei Abstimmungen von „oben“, welchen Entscheidungsspielraum diese eröffnen würden. Volksabstimmungen, die als Plebiszite bezeichnet würden und lediglich der Legitimation und Absicherung bereits teilweise oder vollständiger getroffener Entscheidungen dienen würden, gäbe es auch in diktatorischen und autokratischen Systemen. Als Formen der „Schein- oder Alibi-Demokratie“ würden sie von den Bürger/innen meist durchschaut.
Der Wunsch nach direkten Formen der Demokratie sei ungebrochen hoch – quer durch alle Bevölkerungsschichten und Berufsgruppen. Eine Ausnahme gäbe es. Das seien die Berufspolitiker/innen bzw. die politischen Mandatsträger/innen. Da direkte Formen der Demokratie die Gestaltungs-Macht in einzelnen Sachfragen sowohl der Legislativ- als auch der Exekutiv-Organe einschränken würden, sei nachvollziehbar, dass es von dieser Seite Skepsis und auch Widerstände gäbe.
Dies lasse sich auch historisch und bezogen auf einzelne Landesregierungen verorten: In Baden-Württemberg hätten die Formen indirekter Demokratie im Lauf ihrer Geschichte seit 1956 mehrere Veränderungen erfahren. Die größte Weiterentwicklung habe es in den Jahren 2011 bis 2016 gegeben – unter der grün-rote Landesregierung. Treiber seien vor allem die Grünen gewesen, hier allerdings nicht vorrangig der Ministerpräsident, sondern einzelne Abgeordnete der Grünen-Fraktion. Da die CDU an einer Weiterentwicklung der indirekten Demokratieformen kein Interesse habe, sei seit 2016 Stillstand zu verzeichnen.
Die umfassende Beratungsarbeit von „Mehr Demokratie e.V.“ sei vor allem notwendig, weil neben den notwendigen Hürden der Unterstützer/innen-Zahlen – z.B. bei Bürgerbegehren und Bürgerbescheid – komplizierte weitere Antragsvoraussetzungen beachtet werden müssten. 80 Prozent der Initiativen, die völlig ohne Beratung gestartet würden, scheitern laut Wunder an diesen Hürden. Wenn Rechtsanwälte mit im Spiel wären, sei die Scheiternquote immer noch sehr hoch. Bei der Beratung durch „Mehr Demokratie e.V.“ würden nur noch 10 Prozent der Initiativen scheitern. Eine dieser Hürden sei, dass in der Ausschreibung des Bürgerbegehrens die Kosten der beantragten Maßnahme und der haushaltsrechtliche Deckungsvorschlage exakt beziffert werden müssten. Geschätze Ungefähr-Zahlen und allgemeine Deckungsvorschlagsformulieren führten könnten bereits zur Ungültigkeit von Anträgen führen. Eine Revision sei dann wegen der Drei-Monats-Frist schwierig bzw. nicht mehr machbar.
Die Zusammenfassung der Beratungsarbeit steckt im „Bürger-Handbuch zur erfolgreichen Durchführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden„, das Dr. Wunder geschrieben hat.
Am Ende seines Vortrags befasste sich Wunder mit Pro-Contra-Argumenten zu Formen direkter Demokratie.
Sehr überzeugend war die Pro-Argumente: „Formen der direkten Demokratie als erfolgreiches Medium intensivster politischer Bildung (zu den jeweils zur Abstimmung stehenden Sachfragen)“ „Formen der direkten Demokratie als Möglichkeit, der Politik- und Demokratie-Verdrossenheit entgegenzuwirken“ und „Formen der direkten Demokratie als erfolgreiches Medium, um Rechtspopulismus zu bekämpfen“.
Die Contra-Argumente „Formen der direkten Demokratie als Einfallstor für politische Manipulateure/Scharlatane“ entkräftete Wunder sowohl empirisch als auch phänomenologisch: Bei Formen der direkten Demokratie gehe es – im Gegensatz zu der Wahl von Direktkandidaten – nicht um die Entscheidung für Personen sondern um die Entscheidung von Sachfragen. In der Entscheidung zwischen verschiedenen sich zur Wahl stellenden Personen stecken viel mehr subjektiv begründete Täuschungsmöglichkeiten als in der Entscheidung für einzelne Sachfragen.
Weiterführende Informationen
Steven Levitsky / Daniel Ziblatt. Wie Demokratien sterben.Übersetzung: Klaus-Dieter Schmidt, 320 Seiten. Erscheinungsdatum: 25.07.2019, Erscheinungsort: Bonn, Bestellnummer: 10326.
„Inhalt: Demokratien sterben nicht mehr in erster Linie durch Putsche und Staatsstreiche, sondern in einem Prozess, der an der Wahlurne beginnt. Zu diesem Befund kommen die beiden Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Anfangs demokratisch legitimierte Autokraten bauen die Institutionen eines Staates so um, dass grundlegende demokratische Rechte außer Kraft gesetzt, individuelle und politische Freiheiten eingeschränkt werden und die Opposition kriminalisiert wird. Aktuelle Beispiele hierfür sehen die Autoren in der Türkei, in Polen, Ungarn oder Venezuela. Mit besonderer Sorge beobachten sie die Entwicklungen in den USA, wo ein gewählter Präsident demokratischen Normen mit teils offener Verachtung gegenüber tritt. In ihrer historisch angelegten Analyse arbeiten Levitsky und Ziblatt Kriterien heraus, mit deren Hilfe sich Aushöhlung und letztlich Niedergang demokratischer Systeme erkennen lassen. Sie beschreiben, welche Warnsignale Demokraten nicht überhören und welche Schlüsse sie ziehen sollten, wenn sie sich und die Demokratie in ihren Ländern gegen Autokraten verteidigen wollen.“
Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung. Eine Leseprobe erhält man auf den Seiten der BpB. Eine Papierfassung ist dort zum Preis von 4,50 € zu bestellen.